Seit vielen hundert Jahren diente das „Mauthäusl“ als Dienstsitz und Unterkunft für den Mautner – der den Wegzoll von vorbeiziehenden Salzspediteuren einhob. Seit 1650 zugleich eine Gast- und Tafernwirtschaft“, präsentiert sich das massive Bauwerk heute als Hotel-Gasthof für Kurgäste und Kurzurlauber, als Ausflugsziel und Eingang in die übrigens kostenlos zu betretende Weissbachschlucht. Zwei Aussichtsterrassen sorgen für das Tagesgeschäft mit bayerischer Küche, Kaffee und Kuchen. Im Inneren werden Kurgästen ergänzend zur „Gourmet Vital Küche“ multikulturelle Wellness-Anwendungen verabreicht: Von der heimischen Heublumen-Sonnwendtherapie über Jin Shin Jutzu, das japanische Heilströmen, ayurvedische Öl-Behandlung und Traditionelle Chinesische Medizin bis zur Lomi-Lomi Massage aus Hawaii reicht das Angebot – ebenso unvereinbar und unvermittelbar wie die zahlreichen Facetten der in Polizeidienst stehenden Persönlichkeit Elvin Chans. Groß gewachsen und breitschultrig entstieg er dem dieselbetriebenen Dienstfahrzeug, in Jogginghose, T-shirt und Sakko etwas zu lässig gekleidet, und ließ seine Vogelaugen über die Aussichtsterrasse streifen. Der Abrainer Sepp, vorläufiges Ende einer jahrhundertelangen Evolutionskette von Zolleinnehmern und Wirten, trat unübersehbar auf ihn zu: „Wieder so eine Verrückte, die mit ihren Flip-Flops in die Schlucht hinab gestiegen ist“, kommentierte er das Geschehene. Wie ein zu groß geratener Geier kreiste der Rettungshubschrauber über der Schlucht und erschwerte die Verständigung mehr, als die Berchtesgadener Mundart des vollbärtigen, beleibten Strickjankerträgers. Vorschnelle Urteile hasste Elvin Chan ebenso, wie die Vorurteile der Einheimischen gegenüber allem Fremden. „Irgendwelche Zeugen?“ fragte er knapp zurück und blickte dem Wirt überraschend tief in die Augen. „Gefunden hat sie der Höllhuber“, lautete die ausweichende Antwort, während seine braunen Augen dem Fragenden mit dem Ausdruck jahrhundertealter Unschuld standhielten.
Flip-Flops hatte Chan nicht an. Aber seine Kanye West Sneakers ließen ihn dennoch jede Spitze des Kalksteingerölls spüren, die der ständige Regen aus dem steilen Weg gewaschen hatte, den er nun zum Weissbach hinab stieg. Unten hatten seine Kollegen den Zugang gesperrt. Bis er sie erreichte, mußte sich der Jungkriminaler durch die gaffenden Touristen drängeln, denen jede Katastrophe eine willkommene Abwechslung bedeutete.