Seit einiger Zeit schrieb Jackie. Sie schrieb nicht nur Emails, die der Verständigung dienten, sondern sie hängte diesen Emails Textdokumente an, die zu garnichts dienten. Nichts, außer vielleicht ihrer Belustigung. Auch seiner Belustigung, denn Humor hatte er, dunklen, fast schwarzen Humor, wenn es sein musste.
Es musste sein. Denn ganz offensichtlich war er, Igor, ein Objekt ihrer Belustigung geworden. Eine Figur, die sie auf dem ungeordneten Feld ihrer ausschweifenden Phantasie nach Belieben hierhin und dorthin schob, zum Lachen und Leiden brachte, straucheln, stolpern und sogar fallen ließ. Eine Weile schon speiste sich ihre Phantasie aus einer Quelle: seiner Vergangenheit. Er fand sich wieder in Situationen, die er in dieser oder ähnlicher Weise erlebt zu haben glaubte, las Gedanken, die er, wenn er sie nicht wirklich gehabt hatte, sich doch gerne zu eigen machen würde, ertappte sie bei der Schilderung von Gefühlen, von welchen er sofort glaubte, dass er sich bei deren Empfindung hätte ertappen können.
Sicherlich hatte Jackie das ein oder andere über ihn, selbst von ihm, gehört. Doch es gab zweifellos Teile ihrer Texte, die über ihn hinaus gingen, die von ihr ausgingen und erst zu ihm wurden, nachdem er sie gelesen hatte! Damit schrieb sie sich in sein Gehirn, in seine Gefühle, in sein gesamtes Leben hinein, interpretierte seine Vergangenheit, schlimmer noch, kommentierte bereits seine Gegenwart und beeinflusste seine Zukunft. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen seien rein zufällig, hatte sie ihm lapidar in der ersten dieser an ihn gerichteten Emails mitgeteilt. Rein zufällig, ebenso zufällig wie dieses lieblos gewählte Pseudonym, dieser russische Name Igor, igitt! Es würde hoffentlich immer ein Geheimnis bleiben, welches Kriegserlebnis seiner Mutter damals den unumgänglichen Anlass zu dieser geschmacklosen Wahl gegeben hatte!
Er hatte Jackie gerne am Münchner Hauptbahnhof abgeholt, bei strahlender Nachmittagssonne, im offenen Wagen, damit sie vor der Weiterreise einen Aperó zu sich nehmen könne, wie sie sich in ihrer frankophilen Art ausgedrückt hatte. Natürlich hatte er ihre grazile Gestalt nicht irgendwo absetzen wollen, nicht in einem beliebigen Café, einer gewöhnlichen Bar. Wie von selbst waren in ihm Bilder von der Feldherrenhalle, dem Kultusministerium, dem Hofgarten aufgestiegen, als er nach einer geeigneten Umgebung für ihr Treffen gesucht hatte. Luigi Tambosi war zweifellos die richtige Adresse gewesen, nicht nur, weil sie sich dieses Lokal bereits früher gewünscht hatte, sondern auch, weil die Sonnenstrahlen dort offenbar länger hin reichten, als anderswo …
Dort musste er ihr Gehirn mit seiner Erzählung infiziert haben. Sie hatte feine Antennen und gesteigertes Interesse für Erotik. Er war deshalb vielleicht nicht ganz unschuldig gewesen, in der Wahl eines Themas der Unterhaltung, die eben so prickelnd und halbseiden hatte verlaufen sollen, wie die Aperol Spritz, die sie hatten zu sich nehmen wollen. Süßlich klebrige, leicht bittere Getränke, die zweifellos die idealen Begleiter dieser Unterhaltung gewesen waren. Er hatte von seiner Einladung zu einem bevorstehenden Gartenfest eines befreundeten Ehepaares erzählt, das gerne Swingerclubs aufsuchte. Diese Erinnerung ploppte in seinem Gehirn ebenso blitzartig auf, wie seine gerade gemessene Pulsfrequenz in die Höhe schnellte, als er den Namen des ihrer Mail angehängten Textdokumentes „Swingin Munich“ erblickte.