Vor Mittag

Die Semmeln waren das Beste an seinem Frühstück. Diese der weiblichen Brust nachgeformten Brötchen verbargen ihr feucht-weiches Innenleben unter einer goldbraunen, brüchigen Kruste; ihr mehliger, hefiger Geruch verband sich bestens mit dem Duft eines zu schwachen Kaffees – von dem er für alle späteren Tage zwei Kännchen bestellte. Dick mit Butter bestrichen schien es egal, ob man die Semmelhälften mit Wurst, Käse oder Marmelade zu sich nahm. Bei regelmäßigen Kaffeeintervallen war das Ergebnis immer ein vollendeter Genuss. Der konnte von den übrigen Darreichungen, welche das Frühstück zu einem „reichhaltigen“ machen sollten, (dieses hassenswerte Wort wurde ausnahmsweise gewählt, um die tief empfundene Abscheu des Patienten auszudrücken; Anm. des Autors) nur getrübt werden. Den „nachhaltigen“ Geschmack des Kaffees etwa dem bitter säuerlichen Saft einer (nur unreif erhältlichen) Kiwi-Frucht zu opfern, musste ebenso töricht erscheinen, als wenn man mit einem kalten Naturyoghurt alle Nachklänge des befriedigenden Kaffeegeschmackes auslöschen würde, nur um seine Darmflora zu pflegen. (Der Verzehr eines sogenannten Fruchtyoghurts, hergestellt aus Rübenmelasse, Fruchtsirup und zweifelhaften Geschmacksstoffen, musste aus ästhetischen Gründen ohnehin ausgeschlossen werden.) Es bleibt uns das Rätsel, wie oder warum dennoch alle ärztlich verordneten Frühstücksbestandteile verschwunden waren, als das Tablett abgeräumt wurde und der Chefarzt das Krankenzimmer betrat.
Nach Priestern und Politikern bilden Ärzte die dritte Berufsgruppe, die Hoffnung verbreitet, ohne nachprüfbare, verbindliche Aussagen zu treffen. Nicht so Dr. Schreiber. Er erklärte nochmals die von ihm vorgenommene Fixierung der Fraktur, die Notwendigkeit einer weiteren Operation zur endgültigen Korrektur der Verschiebungen mit einer von ihm bevorzugt eingesetzten, dreieckigen Platte mit Zugang zu den Knochentrümmern und die Zeit bis dahin, die zum Abschwellen notwendig sein würde. Die Frage nach der Heilungschance beantwortete er mit der Schilderung zweier kürzlich abgeschlossener Erfolgsbeispiele.
Er war beruhigt. Andererseits hatte er eine Woche Krankenhausaufenthalt vor sich. Für einen Menschen, der kaum Ruhe vor geschäftlichen wie privaten Aktivitäten kennt, eine ungewohnte Pause. Doch in diesem Jahr hatte er ohnehin mehr Ruhe gesucht – und auch gefunden. Es gelang ihm endlich, Stunden in einem Liegestuhl zu verbringen, im Bett vor sich hin zu dösen oder eben in die Landschaft zu blicken, den schönen Ausblick zu genießen …
Nun aber, kurz vor Mittag, wollte er seine Emails durchsehen. Wie auf Bestellung ploppte sie auf, die Nachricht von Jackie. Vor kurzem hatte er sie erst in München getroffen, kurz, auf einen Aperó, wie sie sich ausgedrückt hatte, gut gewählt, um ihre frankophil geprägten Ansprüche an ein genussreiches, entspanntes Leben zu bekräftigen. Jetzt hatte er die Quittung – in einem angehängten Textdokument namens „Swingin Munich“.

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