Nachtmahr

Joana räumte die mitgebrachten Kleidungsstücke in einen Schrank, ordnete die Toilettenartikel im Bad und schaute sich im Zimmer um. Gegenüber der Tür führte eine Glastür auf die Terrasse; ein großes Fenster nahm den Rest der Wand ein. Ein schöner Ausblick, sagte sie. Der Lech, der ansteigende Hang, hinter dem der Schwansee liegen würde. Sie waren allein.
Er sprach über den Hergang, die Heilungsprognose, den zu erwartenden Krankenhausaufenthalt. Joana und ihr Sohn bestaunten seinen geschwollenen Arm, durch dessen Verband vier Spieße heraus stachen und seine verfärbten, dicken Finger. Sonst keine Verletzungen? Der Ellenbogen, der Oberarm, die Schulter erinnerten mit Schmerzen an den Aufprall. Ansonsten war er gesund. Sie blieben lange, lachten gemeinsam mit ihm, würden morgen wieder kommen.
Sein Abendbrot bestand aus zwei Scheiben Brot, vier Scheiben Wurst, einer kleinen Schale mit Frischkäse und einem Butterwürfel. Gierig verschlang er alles, zusammen mit einem Glas Tee, zwei Flaschen Wasser. Er fühlte sich wohl. Krankheitszeiten bedeuteten seit seiner Kindheit immer auch Geborgenheit …
Grelles Neonlicht stach ihm in die Augen. Eine zierliche, weiß gekleidete Gestalt hielt ihr asiatisches Gesicht zu nahe vor seinen Kopf. „Wienamen?“ fragten die kleinen roten Lippen – deutlich zu laut für den verbliebenen Abstand zwischen ihnen. „Wienamen?“ Er hob den Blick in ihre starren, rötlich braunen Augen, die ihn auffordernd fixierten. „Was ist los?“ fragte er entgeistert. Die kleine Gestalt zog sich zufrieden einige Handbreit zurück. „Gut geschlafen?“ fragte sie. „Schwester Kim immer für Sie da.“ Sie löschte das Licht und zog sich zurück. Es war dunkel.
Auf seinem Mobiltelefon erschien eine neue Textnachricht. Bereits die zweite von Annemarie. „Wünsche Dir eine gute Nacht. Hoffe, das Schlafen geht …“ „Danke, schlafe bestimmt gut“, antwortete er, glücklich, dass sie sich um ihn sorgte. „Dank Schlaftablette? ;-)“ fragte sie zurück. „Ne ;-)“ antwortete er trocken, kämpfte gegen die andrängenden Tränen und rollte sich in seine Decke.
„Wienamen?“ Diesmal war das Licht aus geblieben. Nicht nur dadurch hatte die Szene etwas gespenstisches. Gegen den Strahl ihrer Taschenlampe blickte er in das ausdruckslose Gesicht von Schwester Kim. „Wienamen?“ wiederholte sie fordernd. Er schüttelte den Kopf, als wollte er eine Fliege verscheuchen. „Lass mich in Ruhe, Joana“, murmelte er. Dann schlief er wieder.

Ein Gedanke zu “Nachtmahr

  1. Typisch wortkarg! Da wälzt man sich dann herum, und fragt sich, ob Sie´s verstanden hat. Wahrscheinlich nicht. Ich hätte ihr ein Gedicht geschickt – was peinlich schlecht ist, kommt heute meistens an!
    Holde Prinzessin, mit der Lockenpracht,
    Ich hab zur Nacht an Sie gedacht.
    Denn als am allerersten Tag 
    ich hier im  Krankenzimmer lag
    Haben Sie mich in den Schlaf geschickt
    Bis ich den neuen Tag erblickt
    Ich fühlte keine Schmerzen mehr
    Mein sorgenvoller Kopf war leer. 
    Sie fragten, ob es Drogen sein
    Ich erwiderte darauf ein Nein.
    Denn es reicht, dass Sie mir schreiben
    Und mir vergehen alle Leiden!

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