Auf und ab – Berge und Täler – Aufstieg und Fall: das Allgäu ist eine Landschaft der Extreme. Bei strahlendem Sonnenschein geradezu unwirklich schön, wird es bei tief verhangenem Himmel oder andauerndem Regen ein kalter, deprimierender Vorhof zur Hölle. Dem hat sich die einheimische Bevölkerung auf vielfache Weise angepasst. Durch eine bigotte Religiosität mit opulenten Schönwetter-Festen und strengen Schlechtwetter-Bußen. Durch eine barocke Genussfreudigkeit bei ungehobelt schlechten Manieren. Durch eine Mundart, die deutsche Worte und Grammatik mit tierischen Urlauten, Gebärden und Naturgeräuschen verbindet. Die Männer mutieren im Lebenslauf von blassen, brünetten, rotwangigen Blasmusikanten zu verhutzelten, tiefbraunen und grau gebeugten Greisen. Die Frauen wandeln sich von frischen, milchtriefend zarten Putten zu runden Kühen, die durch krass hervortretende, überdimensionierte Nasen, Ohren oder Kiefer verunstaltet werden. Was die Männer im Lauf des Lebens an Kraft und Gewicht verlieren, das nehmen die Frauen zu. Kein Wunder, denn bei aller Kraftmeierei schätzen die Allgäuer ein Matriarchat, das sich zumindest auf das häusliche Leben erstreckt. Ein Mann sagt auf dem Sterbebett zu seiner Frau: „Gib mir no a paar Zibeben (Rosinen)“. Sie antwortet: „Jetzt werd nimmer zibebelet, jetzt werd gschtorbe!“ Seit dem Mittelalter hat sich nichts Wesentliches mehr verändert – manche sagen stolz: noch länger! Auf die sportliche, bei bester Laune andrängende Touristenflut lauert hinter jeder Ecke eine Leiche: Der vaterlose Judenguru am Kreuze verwesend, als Marterl am Feld, überlebensgroß über dem Altar oder blass geschnitzt und blutkoloriert als Kruzifix in jeder Zimmerecke.
*Titel von Elfriede Jelinek