Moravagine – 100 Jahre Erster Weltkrieg

Der Anfang von Blaise Cendrars expressionistischem Abenteuerroman Moravagine (uups, mort-à-vagine?), über einen fürstlich-debilen Jack the Ripper, gehört zu den schönsten, die ich gelesen habe: „Wer viel gereist ist, durch Länder, Bücher und Menschen, der empfindet manchmal das Bedürfnis, einen Augenblick zu verweilen …
Die Stationen der im Buch geschilderten Reise – oder besser gesagt Flucht – laden dagegen keineswegs zum Verweilen ein. Von dem einsamen Schloss Fejervar über die Festung Preßburg und das Irrenhaus Waldensee führt die Flucht in die russische Februarrevolution von 1905. Von dort durch Amerika bis nach Brasilien, den Amazonas hinunter und schließlich nach Paris. Ein durch Moravagine entfachtes Crescendo von Rausch, Grausamkeit und sadistischer Vernichtungslust läßt die Helden immer wieder davon kommen. Es gipfelt im Ersten Weltkrieg, der – welch ein literarischer Kunstgriff – nicht geschildert wird und damit der unvergleichliche, monströs-makabere Höhepunkt wird, in dem aller Wahnsinn gipfelt. Zerstört treffen sich die Protagonisten ein letztes Mal in einer Irrenfestung auf der Gefangeneninsel St. Marguerite. Hier fallen die Schlüsselsätze, die den individuellen Rausch vom kollektiven Wahnsinn des Krieges scheiden: „Es geht um dein Leben. Wenn du leben willst, töte. Töte, um dich zu überwinden, zu essen, zu scheißen. Es ist nur eine Schande, wenn man in einer Bande tötet, zur festgesetzten Stunde, an einem bestimmten Tag, zu Ehre und Lob gewisser Prinzipien, im Schatten einer Fahne, unter dem Blick der Greise, ob gleichgültig oder willenlos.“
Blaise Cendrar, dessen alter ego Moravagine während vieler Jahre der Beschäftigung mit diesem Stoff geworden ist, zieht hier wohl die persönliche Bilanz dieses Krieges, den er als Freiwilliger gesucht und als Invalider verlassen hat. Eine Lehre nach hundert Jahren?
Weitere Informationen zu diesem Band der „Anderen Bibliothek“ finden sich hier.

Die Liebe in den Zeiten der Pest

Wieder in die Hand genommen: Giovanni Boccaccio, das Dekameron. Zehn Abende – je zehn erzählte Geschichten; das ergibt nicht eintausend und eine, aber immerhin hundert Nächte mit einer erotisch-vergnüglichen Gutenacht-Geschichte. Jede einzelne zeigt, wie die Menschen zur Zeit der Renaissance mit dem Phänomen Liebe umgegangen sind. Christliche Religion, Standesunterschiede und ursprünglichere Moral- und Ehrvorstellungen einerseits, Lebenslust und Daseinsfreude andererseits treffen in immer neuen Konstellationen aufeinander.
Sieht so aus, als leben wir in einer ziemlich unerotischen Zeit. Heute stehen politische Korrektheit, Zweckrationalität und Gleichheitsanspruch dem unfassbaren Phänomen gegenüber. Liebe als lustvoller Wahnzustand wird vielleicht noch im privaten Raum gelebt. In der Öffentlichkeit findet sie nicht statt. Hier bestimmen Forderungen nach dem Verbot der Prostitution, Diskussionen um Schutz von und vor besonderen Abarten und Dating-Sites im Internet das Bild. Irgendwie fehlt uns der Humor.
Davon strotzt das Dekameron nur so: Ein Buch, das in unserer Zeit einschlafende Lebensnerven zu neuem Leben erweckt! Wer das nachprüfen möchte, erhält eine digitale Kindle-Version hier kostenlos!

Alles, was ist

James Salter ist für mich einer der Großen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Wenn er ein Buch mit dem Titel „Alles, was ist“ schreibt, dann muss das her. Der philosophische, leicht melancholische Rückblick beginnt mit einem Kapitel Kriegsmarine, in dem Salter seine Vergangenheit als Militärflieger verarbeitet. Die prägende Phase seines Helden steht für Disziplin und Pflichterfüllung, gibt Halt in einem Leben mit vielen Bruchstellen. Die kontinuierliche Karriere eines Lektors und Herausgebers scheint eher alles zu sein, was ist, als die Literatur selbst. Ansonsten sind es Liebesbeziehungen und Häuser, die in der Erinnerung bleiben. Als feinfühliger Beobachter beschreibt Salter mit wenigen Sätzen die komplexen Veränderungen in der Gefühlswelt von Paaren – eine seiner besonderen Vorzüge. Ein weiterer ist sein meisterhafter Umgang mit der Zeit. In seinen Werken wird sie spürbar relativ – Jahre vergehen unmerklich im Flug, Minuten einer Liebesnacht dauern an, klingen nach und prägen ganze Lebensphasen. Er dehnt Momente wie einen Kaugummi und lässt ganze Jahre wie Blasen in wenigen Sätzen zerplatzen. Seine präzise, reine Sprache erleuchtet den Roman wie die Herbstsonne die bereits erstorbene Landschaft und weckt Vergangenes mit philosophischem Gleichmut zum Leben. Orte, Menschen, Feste bleiben als Geschmackserlebnis auf dem Gaumen, als Aura im Raum, perfekt beschrieben als Literatur. Doch alles, was ist?

Nachtrag

„Sein größter Fehler in Zusammenhang mit seiner Trunksucht war immer sein Drang, den anderen ohne Wenn und Aber seine erbärmlichste Seite zu offenbaren, wozu er rundheraus sagte, was er dachte, ob es den, der es hörte nun kränkte oder nicht.
In der selbstverständlichen Annahme dass seine sympathische Seite ja unübersehbar sei, setzte er alles daran, die unsympathische hervorzukehren.
Dazu trieb ihn einerseits sein Drang, sich jeglicher Art von gesellschaftlichem Protokoll zu entziehen, das ihn krank machte, und andererseits der Wunsch, sich der reinsten surrealistischen Bewegung anzuschließen, die postulierte, jeder Gedanke der einem durch den Kopf schieße, müsste sofort und unmittelbar geäußert werden, was geradezu eine moralische Verpflichtung sei, denn so kehre sich jeweils die intimste Seite eines jeden einzelnen nach außen.“

Wörtliches Zitat aus Dublinesk, s.u. Seite 224, andere Bibliothek

Dublinesk

Okay, hier also der zu erwartende Bloomsday Post. Damit feiere ich zugleich den Roman „Dublinesk“, der in diesem Monat in der Anderen Bibliothek erschienen ist. Rechtzeitig, denn der spanische Autor Enrique Vila-Matas beschreibt einen Verleger, der mit einem „Sprung“ ins Englische den rückblickenden Leerlauf seines Alltags in Madrid hinter sich lassen will. Zitat: „Wenn er eines Tages den so lange gesuchten Autor fände, dieses Phantom, dieses Genie, könnte der kaum besser formulieren, was andere längst vor ihm über die Abgründe gesagt haben, die sich zwischen den Erwartungen der Jugend und der Realität der reifen Jahre auftun; oder darüber, wie illusorisch unsere Entscheidungen sind, daß unser Streben nach Erfolg in Enttäuschung endet oder auch, wie fragil die Gegenwart und die Zukunft von Alter und Tod beherrscht sind.“
Macht nix, sagt der Blogger. Gerade Vila-Matas knüpft den großen Teppich der Literatur munter weiter. Der große Sprung manifestiert sich in einer Reise nach Dublin zur Bloomsday-Feier, an der drei seiner früheren Autoren teilnehmen sollen. Ihnen hat er Rollen in einer Art persönlichen Apokalypse zugedacht, die er dort erwartet. Von der humorlosen Besorgtheit unseres Zeitgeists lässt er sich allerdings nicht anstecken: „Das Apokalyptische verbietet übertriebenen Ernst…. Jede Krise ist letztlich nichts anderes als eine Projektion unserer existenziellen Ängste. Vielleicht besteht unser einziges Privileg darin, zu leben und zu wissen, dass wir alle gemeinsam oder jeder einzeln sterben werden.“
Klar, dass derartige Tiefgründigkeit nüchtern nur schwer zu ertragen ist: „Und welch ein Verdruss, nicht zu trinken. Die Welt an und für sich ist oft ziemlich eintönig und bar jedweder echten Emotionen. Ohne Alkohol ist man verloren.“
Das gilt nicht nur am Bloomsday. Zur perfekten Vorbereitung auf das Lesevergnügen gehört es, eine Flasche irischen Whiskys und die Suhrkamp-Ausgabe des Ulysses auf dem Nachttisch zu deponieren. Damit ist man auf Erkenntnisse wie diese bestens vorbereitet: „Das Normalste wäre, wenn jeder, der sein Leben dahinschwinden sieht, laut aufschreit“, oder „wann begreift er endlich das unpassende Äußerungen in allen möglichen Situationen witzig sein können, nur nicht innerhalb der Ehe?“

Liebe und andere Seuchen

Wie sich alle um mich sorgen! Da empfiehlt mir eine entfernte Muse ein weiteres Werk über Liebeshändel – diesmal einen Klassiker: Søren Kierkegaards „Tagebuch des Verführers.“ Für einen naiven Idealisten ohne Arglist und Verstellung ein schwieriges Werk, weniger in Bezug auf das Lesen und Verstehen, als vielmehr auf die praktische Anwendung. Deshalb sage ich gleich, was mir am besten gefallen hat: „Es ist keine Kunst, ein Mädchen zu verführen, dagegen ist es ein Glück, eine zu finden, die es wert ist, verführt zu werden“‚ ( Seite 67 meiner Manesse-Ausgabe). Dieses Glück lässt sich dann ruhig lange auskosten – mit allen einschlägig bekannten Begleiterscheinungen wie Zerstreutheit, unnatürlicher Schüchternheit, mimosenhafter Empfindlichkeit oder auch ständigen Stimmungsschwankungen von der Euphorie in die Depression und zurück. Lange habe ich das vermisst – und der blasse Beziehungsalltag mit seinen Rücksichten und Höflichkeiten steht dazu im Verhältnis wie die Beerdigung zur Geburt.

Utopische Liebesinsel

„Gestern wieder gevögelt. Keine besonderen Vorkommnisse.“ Wer in seiner dauerhaften Liebesbeziehung diesen in Jean-Paul Sartres „Ekel“ beschriebenen Tagebuch-Eintrag vermeiden will, sollte vielleicht zur „Insel der Linkshänder“ von Alexandre Jardin greifen. Der französische „Erfolgsautor“ schildert in einer Mischung aus Satire und Utopie, wie man länger Spaß an einer langen Zweierbeziehung hat. Keine Ahnung übrigens, warum Marina ausgerechnet mir dieses Stück Literatur verschrieben hat – denn ja: hier soll Medizin verabreicht werden. Nicht umsonst ist der Protagonist, der aus Britenklischees gewebte Lord Stork, von Beruf Literaturtherapeut. Um seine in spektakulärem Handstreich eroberte Herzensdame nach sieben Ehejahren nicht wieder zu verlieren, wandert er mit seiner Familie auf die Insel der Linkshänder St- Hélène im Südpazifik aus – die letzte Etappe per Heißluftballon. Schöne Reminiszenz an den „Luftschiffer Gianozzo“, wie auch Schilderungen schrullig-spießiger Gefühle öfter an den vor 250 Jahren geborenen Jean Paul erinnern. Die folgende Beschreibung des auf die Liebe ausgerichteten Lebens der Inselbewohner und ihrer gesellschaftlichen wie politischen Einrichtungen knüpft formal an die klassischen Utopien von Tomasso Campanella, Thomas Morus, Charles Fourier und Henri de Saint-Simon an. Inhaltlich stellt der Autor die Erfahrungen der sexuellen Revolution einschließlich gemäßigter weiblicher Emanzipation der viktorianischen Moral und ihren Beschränkungen gegenüber. Dabei kann er nur gewinnen – ebenso wie ich, der Leser. Gleich zu Anfang habe ich mich in den plumpen Fehlern des Lords wiedererkannt – alle weiteren mache ich dann bei nächster Gelegenheit! Gefallen hat mir, dass die Beziehungen zwischen den Geschlechtern tiefgründig und fair geschildert wurden. Schön auch, daß man das Thema ohne lebenshelferischen Anspruch und esoterischen Quark behandeln kann.

Neue Brecht-Biographie von Jan Knopf

War am 6.2.2013 auf einer interessanten Vorstellung einer neuen Brecht Biographie im Literaturhaus München. Das klang wirklich gut. Die Rezeption des polygamen Edel-Sozialisten, so die These des Autors Jan Knopf, war bislang durch die ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Krieges stark getrübt. Also kommt die Biographie als „erste umfassende Darstellung nach der Wende“, daher. Das kann ich gut nachvollziehen; drüben wollten sie BB gegen alle Widerborsten zu einem Vorzeige-Klassiker machen – hüben haben sie die Werke zu blutleeren Ausdrücken des Kaderkommunismus erklärt. Beides übrigens ganz gegen die folkloristische und vielfältige Rezeptionsgeschichte – nicht nur der Dreigroschenoper, sondern auch von Werken wie Baal: da muss es einen schönen Schlöndorff-Fassbinder-Film von 1969 geben. Der Erotiker BB wurde zudem heftig von Frauenbewegten angegriffen. Der Autor scheint sich auch in diesem Durcheinander auszukennen und nimmt den inzwischen Wehrlosen tapfer in Schutz – auch vor den bekannten Ausbeutungs- und Werknutzungsvorwürfen aus dieser Ecke. Immerhin Gründe genug zum kaufen und/oder lesen. Übrigens finden sich in der breiten Lyrikproduktion auch erotische Sonette – einige zitiert der Biograph im Buch.

Dagegen sein

„Er war jetzt bald fünfzig – und schon jetzt erging es ihm wie seiner Muttter, die fast dreißig Jahre älter war; nahmen das Gefühl der Leere und unabweisbarer Vergänglichkeit zu – ringsum und in ihm selber. Die Triumphe und die Affären, die er genossen hatte, die Niederlagen und Demütigungen, die er hatte einstecken müssen – all das war – verweht. Inzwischen war er – darin den Freunden gleich – eine Karikatur seiner selbst, seiner Wünsche und Hoffnungen, zynisch und misstrauisch gegen sich; korrumpiert von der Tatsache, daß er sich mit der Wirklichkeit ausgesöhnt hatte – mit den Bedingungen, die sie ihm auferlegte. Wovon und wofür er inzwischen lebte – von den Launen des Marktes und des Zwischenhandels – das stand in krassem Gegensatz zu den Träumen seiner Jugend – zum Traum, seine Talente zu nutzen, in verräucherten Bars Chansons zu singen und bis in den Nachmittag hinein zu schlafen – in der Gewissheit, dass die täglich abgelieferten acht Stunden Arbeit und die damit verbundene Auslegung der Welt falsch waren. Die Jugend hatte er mit Dagegensein vergeudet. In seinen Dreißigern musste alles, was den Einsatz lohnte, von pfäffischem Glauben geadelt sein: dem an eine höherwertige Idee, an Gerechtigkeit, an eine gute, die Meschnheit voranbringende Sache – beifällig abgenickt von der Troika älterer, wetterbeständiger Herren und dem egalitären Hunger derjenigen, die unversöhnlich über die Einhaltung der Glaubensartikel wachten. Da war er schon auf dem falschen Weg gewesen. Und heute verteilte er mit schlauer Hand Bollywood-Produktionen über den Globus, so wie andere Autos verteilten, Blumendünger oder Zeitersparnis – von keiner anderen Vision beseelt als davon, morgen mehr als heute zu verkaufen. Das war pragmatisch, vielleicht sogar rechtschaffen, aber vor allem wirkte es daran mit, immer noch mehr nutzlose Dinge zwischen die Menschen zu schieben, zwischen sie und ihr Leben. Außer Zweifel stand: Was nicht die Dauer bestätigte, die in einem einzigen erfüllten Moment liegen konnte, war Betrug.“

Unkommentiertes, wörtliches Zitat aus Thomas Palzers Roman „Ruin“, (C) Verlag Blumenbar, 2005

Gelesen: Karl Ignaz Hennetmair – Ein Jahr mit Thomas Bernhard

Wunderbar – man beobachtet ein Jahr lang Hennetmairs Interaktionen mit Thomas Bernhard wie in einem Aquarium. Man erkennt Zusammenhänge zwischen dem täglichen Leben und einzelnen Werken. Der Stoff, aus dem die Träume sind, liegt in der unmittelbaren Nachbarschaft. Ebenso wie die Protagonisten seiner Werke, die samt und sonders Züge der Persönlichkeit Bernhards verdichten. Seine Sicht der Dinge wird in seinen Werken lediglich wie durch ein Brennglas verstärkt. Dennoch bleibt es ein Geheimnis, wie man im stillen Kämmerlein Werke von klassischer Form und Größe schaffen kann. Muss unbedingt nach Ohlsdorf, Gmunden, will die Handlungsorte sehen!

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