Aufschlag

… bis er auf dem grau verwitterten Lärchenboden der darunter liegenden Terrasse aufschlug. Wie sein Leben sich in Sekundenbruchteilen für immer ändern konnte, hatte er schon öfter erfahren. Immer war sein Verstand hellwach und sein Bewusstsein glasklar geworden. Alles reduzierte sich plötzlich auf das Wesentliche: Überleben. Auch diesmal funktionierte das Notprogramm der Natur. Er sprang elastisch auf die Beine, stellte keinerlei Schmerzen fest und lachte laut heraus über die Komik der Situation. Die letzten Wochen hatte er mit der Sorge gelebt, jemand könnte von dem ungesicherten Balkon stürzen. Nun war er selbst der Dumme gewesen – als ob er in einen Swimmingpool ohne Wasser gesprungen wäre!
Ein stechender Schmerz lenkte die Aufmerksamkeit auf seinen linken Arm, der zum Handgelenk hin geschwollen und nicht mehr frei beweglich war. Sofort löste das Notprogramm die richtigen Entscheidungen aus. Mit wenigen Schritten nahm er die Treppe zurück nach oben, zog sich Jeans und ein T-Shirt über, griff zum Mobiltelefon, ließ sich von der Auskunft mit der Taxizentrale verbinden und bestellte einen Wagen, der ihn zur Röntgenuntersuchung in das nächste Krankenhaus bringen sollte. Dann dachte er an Annemarie.

Oh Natur – oh Schutz vor ihr!*

Auf und ab – Berge und Täler – Aufstieg und Fall: das Allgäu ist eine Landschaft der Extreme. Bei strahlendem Sonnenschein geradezu unwirklich schön, wird es bei tief verhangenem Himmel oder andauerndem Regen ein kalter, deprimierender Vorhof zur Hölle. Dem hat sich die einheimische Bevölkerung auf vielfache Weise angepasst. Durch eine bigotte Religiosität mit opulenten Schönwetter-Festen und strengen Schlechtwetter-Bußen. Durch eine barocke Genussfreudigkeit bei ungehobelt schlechten Manieren. Durch eine Mundart, die deutsche Worte und Grammatik mit tierischen Urlauten, Gebärden und Naturgeräuschen verbindet. Die Männer mutieren im Lebenslauf von blassen, brünetten, rotwangigen Blasmusikanten zu verhutzelten, tiefbraunen und grau gebeugten Greisen. Die Frauen wandeln sich von frischen, milchtriefend zarten Putten zu runden Kühen, die durch krass hervortretende, überdimensionierte Nasen, Ohren oder Kiefer verunstaltet werden. Was die Männer im Lauf des Lebens an Kraft und Gewicht verlieren, das nehmen die Frauen zu. Kein Wunder, denn bei aller Kraftmeierei schätzen die Allgäuer ein Matriarchat, das sich zumindest auf das häusliche Leben erstreckt. Ein Mann sagt auf dem Sterbebett zu seiner Frau: „Gib mir no a paar Zibeben (Rosinen)“. Sie antwortet: „Jetzt werd nimmer zibebelet, jetzt werd gschtorbe!“ Seit dem Mittelalter hat sich nichts Wesentliches mehr verändert – manche sagen stolz: noch länger! Auf die sportliche, bei bester Laune andrängende Touristenflut lauert hinter jeder Ecke eine Leiche: Der vaterlose Judenguru am Kreuze verwesend, als Marterl am Feld, überlebensgroß über dem Altar oder blass geschnitzt und blutkoloriert als Kruzifix in jeder Zimmerecke.

*Titel von Elfriede Jelinek

Gedankenflug

Es ist der Blick – der schöne Ausblick – der Augenblick. Hundertmal hatte er sich an dieses Balkongeländer gelehnt, den Blick über den blaugrünen See streifen lassen, über die Bergsilhouette am anderen Ufer, bis zu den entrückt in den Felsen stehenden Königsschlössern. Dieser Ausblick beruhigte ihn und verleitete dazu, Gedanken nachzuhängen, von weit her kommenden Gedanken über Vergangenes, das Leben, die neue Liebe. Er hatte die Geländer nur an die Balken gestellt, um sie später in der richtigen Reihenfolge festschrauben zu können. Vorher gönnte er sich eine Tasse Kaffee, lief dann langsam auf dem Balkon umher, folgte der Gewohnheit, sich anzulehnen. Doch in diesem Augenblick gab das Geländer nach, fiel auf die darunter liegende Terrasse und zertrümmerte einen Tisch. Er konnte das Gleichgewicht nicht mehr finden und stürzte hinterher …