Doch bevor er sich noch den zweifellos obszönen Ausführungen in dem sicher auch ihn persönlich nicht schonenden Textdokument widmen konnte, wurde ein Tablett mit Geschirr hereingetragen. „Wo dürfen wir das Mittagessen hinstellen?“, wurde er gefragt. Und auf seine Antwort hin: „Brauchen Sie Hilfe?“ Er verneinte. Es forderte seinen Ehrgeiz heraus, mit einem gesunden Arm und wenigen Fingern auszukommen – außerdem betachtete er dies als Training.
Das Mittagessen bestand regelmäßig aus einer Vorsuppe, einer aus mehreren Vorschlägen auswählbaren Hauptspeise und einem Nachtisch. Dieser Regelmäßigkeit begegnete er mit seinen eigenen Regeln. Die Suppen deckte er nach einem einzigen Versuch nicht einmal mehr auf. Dies mag an dem ungewöhnlich heißen Sommer gelegen haben; oder an seiner Abneigung gegenüber Suppen aus Trockenpulver. Oder aber der eigenartig stärkeschleimigen Konsistenz, der blassen Farbe zu verdanken gewesen sein, die er vorgefunden hatte. Den Teller mit der Hauptspeise deckte er ab und aß die gesamte Portion nacheinander, langsam und mit sichtlicher Befriedigung auf. Der Teller war danach ebenso sauber, wie er ihn seinem Lieblingsitaliener in München regelmäßig zurück in die Küche schickte – als anerkennendes Kompliment an eine liebevoll zubereitete Mahlzeit. Mit der Nachspeise verfuhr er nach Beschaffenheit. Obst verspeiste er in wenigen Bissen. Dosenkompott verschmähte er ebenso wie sahnehaltige Süßspeisen. Damit war dieses Mittagsmahl wie jedes der folgenden abgehandelt.
Er hatte sich Zigarren mitbringen lassen. Mit einer davon in der Hand setzte er sich auf die Bank, welche die kleine, blasse Terasse vor seinem Zimmer möblierte. Er rauchte in langsamen, nachdenklichen Zügen, während die Mittagssonne seinen Schatten an die Rückwand warf. Ohne anzuklopfen hatte Elisabeth sein Krankenzimmer betreten, sein leeres Bett betrachtet und ihn wohl durch das Fenster auf der Terrasse erblickt. Nun stand sie in der Tür, mit ihrem Lächeln, das er so gut kannte. Es spiegelte sowohl ihre Freude über die gelungene Überraschung als auch die freudige Erwartung, dass diese sehr positiv aufgenommen werden würde. Er blieb gleichmütig genug, sich diese Überraschung nicht anmerken zu lassen. Seit er ihre „zweite“ Beziehung vor Monaten beendet hatte, hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Seinen aufrichtigen Wunsch, doch Freunde zu bleiben, hatte sie klugerweise abgelehnt; bis heute.
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Swingin Munich
Seit einiger Zeit schrieb Jackie. Sie schrieb nicht nur Emails, die der Verständigung dienten, sondern sie hängte diesen Emails Textdokumente an, die zu garnichts dienten. Nichts, außer vielleicht ihrer Belustigung. Auch seiner Belustigung, denn Humor hatte er, dunklen, fast schwarzen Humor, wenn es sein musste.
Es musste sein. Denn ganz offensichtlich war er, Igor, ein Objekt ihrer Belustigung geworden. Eine Figur, die sie auf dem ungeordneten Feld ihrer ausschweifenden Phantasie nach Belieben hierhin und dorthin schob, zum Lachen und Leiden brachte, straucheln, stolpern und sogar fallen ließ. Eine Weile schon speiste sich ihre Phantasie aus einer Quelle: seiner Vergangenheit. Er fand sich wieder in Situationen, die er in dieser oder ähnlicher Weise erlebt zu haben glaubte, las Gedanken, die er, wenn er sie nicht wirklich gehabt hatte, sich doch gerne zu eigen machen würde, ertappte sie bei der Schilderung von Gefühlen, von welchen er sofort glaubte, dass er sich bei deren Empfindung hätte ertappen können.
Sicherlich hatte Jackie das ein oder andere über ihn, selbst von ihm, gehört. Doch es gab zweifellos Teile ihrer Texte, die über ihn hinaus gingen, die von ihr ausgingen und erst zu ihm wurden, nachdem er sie gelesen hatte! Damit schrieb sie sich in sein Gehirn, in seine Gefühle, in sein gesamtes Leben hinein, interpretierte seine Vergangenheit, schlimmer noch, kommentierte bereits seine Gegenwart und beeinflusste seine Zukunft. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen seien rein zufällig, hatte sie ihm lapidar in der ersten dieser an ihn gerichteten Emails mitgeteilt. Rein zufällig, ebenso zufällig wie dieses lieblos gewählte Pseudonym, dieser russische Name Igor, igitt! Es würde hoffentlich immer ein Geheimnis bleiben, welches Kriegserlebnis seiner Mutter damals den unumgänglichen Anlass zu dieser geschmacklosen Wahl gegeben hatte!
Er hatte Jackie gerne am Münchner Hauptbahnhof abgeholt, bei strahlender Nachmittagssonne, im offenen Wagen, damit sie vor der Weiterreise einen Aperó zu sich nehmen könne, wie sie sich in ihrer frankophilen Art ausgedrückt hatte. Natürlich hatte er ihre grazile Gestalt nicht irgendwo absetzen wollen, nicht in einem beliebigen Café, einer gewöhnlichen Bar. Wie von selbst waren in ihm Bilder von der Feldherrenhalle, dem Kultusministerium, dem Hofgarten aufgestiegen, als er nach einer geeigneten Umgebung für ihr Treffen gesucht hatte. Luigi Tambosi war zweifellos die richtige Adresse gewesen, nicht nur, weil sie sich dieses Lokal bereits früher gewünscht hatte, sondern auch, weil die Sonnenstrahlen dort offenbar länger hin reichten, als anderswo …
Dort musste er ihr Gehirn mit seiner Erzählung infiziert haben. Sie hatte feine Antennen und gesteigertes Interesse für Erotik. Er war deshalb vielleicht nicht ganz unschuldig gewesen, in der Wahl eines Themas der Unterhaltung, die eben so prickelnd und halbseiden hatte verlaufen sollen, wie die Aperol Spritz, die sie hatten zu sich nehmen wollen. Süßlich klebrige, leicht bittere Getränke, die zweifellos die idealen Begleiter dieser Unterhaltung gewesen waren. Er hatte von seiner Einladung zu einem bevorstehenden Gartenfest eines befreundeten Ehepaares erzählt, das gerne Swingerclubs aufsuchte. Diese Erinnerung ploppte in seinem Gehirn ebenso blitzartig auf, wie seine gerade gemessene Pulsfrequenz in die Höhe schnellte, als er den Namen des ihrer Mail angehängten Textdokumentes „Swingin Munich“ erblickte.
Jackie
Jackie gehörte zu jenem Typus junger Frauen, wie sie zu Hunderten die PR- und Werbeagenturen dieser Welt durch(sch)liefen – bis sie sich nach Jahren entweder einen lukrativen Repräsentationsjob in einem Unternehmen gesichert haben, den sie mit ihrem appetitlichen bis attraktiven Aussehen, ihren perfekten Manieren, ihrem mehrsprachig sicheren, modischen Geplapper und der inzwischen erworbenen Routine in kleineren wie größeren Machtkämpfen ausfüllen – oder ihre öffentliche Wirksamkeit ganz in den privaten Dienst eines unerreichbar hohen Repräsentanten stellen, so mächtig oder vermögend, dass nur noch dezente PR-Maßnahmen mit eigenen Kindern, Gartenparties, luxuriösen Reisen und wohltätigen Aufgaben gefragt sind. In beiden Fällen spiegelt sich ein Aufstieg in der Hierarchie in körperlichen Attributen: Immer ausladendere Dekolletés, immer breitere Hüften stecken in immer teureren Klamotten, immer dickere Schichten Make-up über dem mit Selbstbräuner vedelten Teint müssen die Spuren privater und geschäftlicher Demütigungen oder Misserfolge überdecken, während Erfolgstrophäen deutlich sichtbar in Gold und Edelsteinen zur Schau gestellt werden. Offensichtlich, warum Unternehmen wie Private sich regelmäßig vor die undankbare Aufgabe gestellt sehen, das Personalkarussell sozial verträglich weiter zu drehen.
Deshalb veranstalten Berufsverbände und Branchenorganisationen Kongresse, die von renommierten Unternehmen gesponsert werden. Auf einer derartigen Veranstaltung hatte er Jackie kennen gelernt. Wie immer war er auf dem abendlichen Welcome Event halbblind und unbedarft herum gestolpert, und nur eine nicht einmal beabsichtigte Ungeschicklichkeit hatte ihm Jackies Bekanntschaft eingebracht, die sein Interesse mit der unwiderstehlichen Verbindung eines warmen Blickes aus ihren rehbraunen Augen mit einer ungewohnt zynischen Bemerkung gewonnen hatte. Sie stand auf schlanken, langen Beinen, die ihr selbst in ihrem schwarzen Hosenanzug einer Kaufhausmarke einen modelhaften Auftritt erlaubten. Ihre braunen Haare fielen locker auf die Schultern, schlicht und ohne Spuren teurer Frisurkünstler. Dezent geschminkt, wie sie war, betonten ihre dunklen Brauen ganz natürlich ihre Augen. Mit einer aufmüpfigen, schlanken Nase und elegant geschwungenen Lippen, die immer wieder den Blick auf zwei helle Zahnreihen freigaben, wirkte sie wie eine Französin, genau genommmen wie das Idealbild aller Französinnen, eine Pariserin. Während sie sich lebhaft unterhielten – sie teilte erfreulicherweise seine Vorliebe für italienische Weine – entdeckte er jene kleinen Besonderheiten an ihr, die in seinen Augen Schönheit mit Einzigartigkeit adelten: Mit Unterschieden zwischen beiden Gesichtshälften, einem schief geschliffenen Schneidezahn, einem unbezähmbaren Haarwirbel oder einem Muttermal enthob sie sich dem Typus und gewann seine Sympathie. Ihre Gesprächsthemen hatten längst den beruflichen Rahmen verlassen und sich über alle Spielarten von Kultur erstreckt, vor allem jedoch auf die französischen und deutschen Literaturen, als er den Abend mit dem Gefühl beendete, ihn auf bestmögliche Weise verbracht zu haben.
Obwohl ihre angekündigte Bewerbung für die von ihm offerierte Stelle niemals eintraf, blieben sie in Kontakt. Ihre Emails ebenso wie seine Antworten bezogen sich neben wenigen persönlichen Zeilen auf Literatur – doch warum und vor allem wie systematisch sie aufgebaut waren, das wurde ihm erst lange Zeit später klar …
Vor Mittag
Die Semmeln waren das Beste an seinem Frühstück. Diese der weiblichen Brust nachgeformten Brötchen verbargen ihr feucht-weiches Innenleben unter einer goldbraunen, brüchigen Kruste; ihr mehliger, hefiger Geruch verband sich bestens mit dem Duft eines zu schwachen Kaffees – von dem er für alle späteren Tage zwei Kännchen bestellte. Dick mit Butter bestrichen schien es egal, ob man die Semmelhälften mit Wurst, Käse oder Marmelade zu sich nahm. Bei regelmäßigen Kaffeeintervallen war das Ergebnis immer ein vollendeter Genuss. Der konnte von den übrigen Darreichungen, welche das Frühstück zu einem „reichhaltigen“ machen sollten, (dieses hassenswerte Wort wurde ausnahmsweise gewählt, um die tief empfundene Abscheu des Patienten auszudrücken; Anm. des Autors) nur getrübt werden. Den „nachhaltigen“ Geschmack des Kaffees etwa dem bitter säuerlichen Saft einer (nur unreif erhältlichen) Kiwi-Frucht zu opfern, musste ebenso töricht erscheinen, als wenn man mit einem kalten Naturyoghurt alle Nachklänge des befriedigenden Kaffeegeschmackes auslöschen würde, nur um seine Darmflora zu pflegen. (Der Verzehr eines sogenannten Fruchtyoghurts, hergestellt aus Rübenmelasse, Fruchtsirup und zweifelhaften Geschmacksstoffen, musste aus ästhetischen Gründen ohnehin ausgeschlossen werden.) Es bleibt uns das Rätsel, wie oder warum dennoch alle ärztlich verordneten Frühstücksbestandteile verschwunden waren, als das Tablett abgeräumt wurde und der Chefarzt das Krankenzimmer betrat.
Nach Priestern und Politikern bilden Ärzte die dritte Berufsgruppe, die Hoffnung verbreitet, ohne nachprüfbare, verbindliche Aussagen zu treffen. Nicht so Dr. Schreiber. Er erklärte nochmals die von ihm vorgenommene Fixierung der Fraktur, die Notwendigkeit einer weiteren Operation zur endgültigen Korrektur der Verschiebungen mit einer von ihm bevorzugt eingesetzten, dreieckigen Platte mit Zugang zu den Knochentrümmern und die Zeit bis dahin, die zum Abschwellen notwendig sein würde. Die Frage nach der Heilungschance beantwortete er mit der Schilderung zweier kürzlich abgeschlossener Erfolgsbeispiele.
Er war beruhigt. Andererseits hatte er eine Woche Krankenhausaufenthalt vor sich. Für einen Menschen, der kaum Ruhe vor geschäftlichen wie privaten Aktivitäten kennt, eine ungewohnte Pause. Doch in diesem Jahr hatte er ohnehin mehr Ruhe gesucht – und auch gefunden. Es gelang ihm endlich, Stunden in einem Liegestuhl zu verbringen, im Bett vor sich hin zu dösen oder eben in die Landschaft zu blicken, den schönen Ausblick zu genießen …
Nun aber, kurz vor Mittag, wollte er seine Emails durchsehen. Wie auf Bestellung ploppte sie auf, die Nachricht von Jackie. Vor kurzem hatte er sie erst in München getroffen, kurz, auf einen Aperó, wie sie sich ausgedrückt hatte, gut gewählt, um ihre frankophil geprägten Ansprüche an ein genussreiches, entspanntes Leben zu bekräftigen. Jetzt hatte er die Quittung – in einem angehängten Textdokument namens „Swingin Munich“.
Nachtmahr
Joana räumte die mitgebrachten Kleidungsstücke in einen Schrank, ordnete die Toilettenartikel im Bad und schaute sich im Zimmer um. Gegenüber der Tür führte eine Glastür auf die Terrasse; ein großes Fenster nahm den Rest der Wand ein. Ein schöner Ausblick, sagte sie. Der Lech, der ansteigende Hang, hinter dem der Schwansee liegen würde. Sie waren allein.
Er sprach über den Hergang, die Heilungsprognose, den zu erwartenden Krankenhausaufenthalt. Joana und ihr Sohn bestaunten seinen geschwollenen Arm, durch dessen Verband vier Spieße heraus stachen und seine verfärbten, dicken Finger. Sonst keine Verletzungen? Der Ellenbogen, der Oberarm, die Schulter erinnerten mit Schmerzen an den Aufprall. Ansonsten war er gesund. Sie blieben lange, lachten gemeinsam mit ihm, würden morgen wieder kommen.
Sein Abendbrot bestand aus zwei Scheiben Brot, vier Scheiben Wurst, einer kleinen Schale mit Frischkäse und einem Butterwürfel. Gierig verschlang er alles, zusammen mit einem Glas Tee, zwei Flaschen Wasser. Er fühlte sich wohl. Krankheitszeiten bedeuteten seit seiner Kindheit immer auch Geborgenheit …
Grelles Neonlicht stach ihm in die Augen. Eine zierliche, weiß gekleidete Gestalt hielt ihr asiatisches Gesicht zu nahe vor seinen Kopf. „Wienamen?“ fragten die kleinen roten Lippen – deutlich zu laut für den verbliebenen Abstand zwischen ihnen. „Wienamen?“ Er hob den Blick in ihre starren, rötlich braunen Augen, die ihn auffordernd fixierten. „Was ist los?“ fragte er entgeistert. Die kleine Gestalt zog sich zufrieden einige Handbreit zurück. „Gut geschlafen?“ fragte sie. „Schwester Kim immer für Sie da.“ Sie löschte das Licht und zog sich zurück. Es war dunkel.
Auf seinem Mobiltelefon erschien eine neue Textnachricht. Bereits die zweite von Annemarie. „Wünsche Dir eine gute Nacht. Hoffe, das Schlafen geht …“ „Danke, schlafe bestimmt gut“, antwortete er, glücklich, dass sie sich um ihn sorgte. „Dank Schlaftablette? ;-)“ fragte sie zurück. „Ne ;-)“ antwortete er trocken, kämpfte gegen die andrängenden Tränen und rollte sich in seine Decke.
„Wienamen?“ Diesmal war das Licht aus geblieben. Nicht nur dadurch hatte die Szene etwas gespenstisches. Gegen den Strahl ihrer Taschenlampe blickte er in das ausdruckslose Gesicht von Schwester Kim. „Wienamen?“ wiederholte sie fordernd. Er schüttelte den Kopf, als wollte er eine Fliege verscheuchen. „Lass mich in Ruhe, Joana“, murmelte er. Dann schlief er wieder.
Joana
Als er erwachte, wie aus einem langen, tiefen Schlaf, das Buch neben sich auf dem Krankenbett, stand Joana bereits in seinem Zimmer. Ganz den praktischen Seiten des Lebens zugewandt, hatte sie auf seine Nachricht hin das Nötigste für einen Krankenhausaufenthalt gepackt, ihren jüngeren Sohn eingesammelt und im Allgäu den von ihm angerichteten Schaden beseitigt. Das war es, was ihn mit seiner Ehefrau noch verband: Die gegenseitige Versorgung und die Sorge um ihre beiden immer erwachsener werdenden Jungen.
Als sie vor fünf Jahren bei einem seiner Freunde das entdeckt hatte, was sie bei ihm vermisst haben musste, war sein Rückzug ins Private, getragen von dem Glauben, dass er wenigstens in einer Kleinfamilie die Ideale würde verwirklichen können, die er sich in seiner Jugend als die wichtigsten gewählt hatte, in einer Sackgasse geendet. Die Gemeinsamkeiten ihrer Beziehung zerplatzten wie Seifenblasen, die sie vielleicht von Anfang an gewesen waren. Denn kennen gelernt hatte er Joana nie. Das hatte ihn fasziniert. Obwohl sie in vielen Werten, Ansichten und Handlungsweisen mit ihm übereinstimmte, sich vielleicht in diesen und weiteren an ihn angepasst hatte, entdeckte er doch über viele Jahre hinweg immer wieder neue, völlig aus seinem Bild fallende, manchmal gegensätzliche Seiten an ihr.
Er war machtlos gewesen. Weder hatte er seine materielle Überlegenheit ausspielen, noch das Wohlergehen der Kinder gefährden wollen. Seiner verbalen Überzeugungskraft war Joana mit beharrlicher Verweigerung von Gesprächen begegnet. Seine tiefen Gefühle hatte er schon vorher nicht mehr äußern können. Und wo das Verlangen aufhört, sollte die Freundschaft anfangen. Während er alles tat, um Schaden zu begrenzen, schaute er mit angehaltenem Atem der Auflösung seiner Ehe zu. Er blickte wie durch ein Kaleidoskop auf sein bisheriges, glückliches Leben: Mit einer winzigen Drehung purzelten die Bestandteile zu einem sinnlosen Schrotthaufen durcheinander.
Ausheilung
Er lachte mehrmals über diesen Witz, obwohl er nicht lachen wollte, vielleicht wegen einer heimlichen Hoffnung, dass sich die Pointe an ihm wiederholen würde, vielleicht wegen des Schauders, der uns bei Blasphemien überkommt. Dann griff er einen Leinenband von einem seiner Lieblingsautoren auf dem Nachttisch. Dort fand er die folgenden Sätze.
Ein gnadenloser Selbstzerstörer wird immer auch ein begnadeter Selbstheiler sein. Weil er fortwährend Versuche anstellt, wie er sich schaden, in letzter Konsequenz vernichten kann, lernt er zugleich, sich selbst immer wieder neu zusammen zu setzen, wieder zu beleben, zu heilen.
In den blassen Betonbauten unserer Massenanstalten machen wir die Selbstzerstörer nach christlichem Vorbild zu Heilsempfängern. Die Heilsempfänger werden mit einem Laserband gekennzeichnet, in dem ihre Individualität verborgen wird, um sie zu einem beliebigen Teil der Heilmassen zu machen, die durch unsere Betonanstalten geschoben werden. Gnadenlose Heilsbringer stehen den Massen begnadeter Heilsempfänger gegenüber.
Eine Ausheilung gelingt hier nur mehr noch dem Selbstheiler; der begnadete Selbstheiler findet gerdezu ideale Bedingungen für seine Ausheilung vor. Wer sich dagegen als Heilsempfänger allein auf die betonenen und metallenen Massenanstalten verlässt, läuft Gefahr, unmerklich in die Mühlen einer fortwährenden, fortgesetzt sich verstärkenden Zerstörung zu geraten.
Nur als Selbstheiler können wir uns eine Ausheilung überhaupt noch vorstellen. Wo wir zu Heilsempfängern geworden sind, haben sich alle Heilsvisionen längst verbraucht. Denn der Kreislauf von Selbstheilung und Selbstzerstörung wälzt sich bereits durch die Jahrhunderte. Ganze Völker von Selbstzerstörern haben eine so gnadenlose, massenhafte Selbstzerstörung herauf geführt, dass die Menschheit in jeder Sekunde von den Bildern des Schreckens gebannt, von den Schmerzschreien der Opfer betäubt und von Katastrophen gelähmt wird.
Aufgewacht
Seine erste Wahrnehmung war … das Holzkreuz an der Wand mit dem kürzesten, ihm bekannten Sarkasmus: INRI – Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum. Verkehrte Welt, dachte er. Den römischen Sieger- und Unterdrückerhumor geben Christen detailgetreu wieder, damit er als Hinweis auf das zukünftige Königreich Gottes gelesen wird!
Dann erst bemerkte er sein persönliches Marterinstrument. Der linke Arm war von der Handfläche bis zum Ellenbogen in Mull eingebunden. Heraus stachen vier Metalllspieße, die mehrfach mit zwei Längsachsen verschraubt waren. Es war klar, dass diese durch sein Fleisch bis auf die Knochen reichen mussten. Damit sollten seine Unterarmbrüche bis zur Operation stabilisiert werden. Er wandte sich wieder dem Holzkreuz zu. Der gesamte Heiland war mit nur drei Nägeln stabilisiert worden. Entrüstet über seinen absurden Vergleich erinnerte er sich an einen Witz seines Großvaters aus dem ersten Weltkrieg: Ein Christ, ein Jude und ein Kommunist lagen mit Wundfieber im Feldlazarett. Der Jude betete zu Gott, der Christ betete zu Gott Vater, zum Sohn und zum Heiligen Geist; der Kommunist betete überhaupt nicht. Nach einer Woche starb der Jude. Der Feldgeistliche sprach zum Christen: Wer an den einen Gott glaubt, gewinnt das ewige Leben. Nach der zweiten Woche war auch der Christ gestorben. Der Feldgeistliche sprach zum Kommunisten: Und wenn man garnicht an ihn glaubt, strengt er sich besonders an!
Annemarie
Annemarie dachte er sich als Meerjungfrau, die versehentlich ohne Fischleib geboren wurde. Statt dessen stehen ihre langen Beine wohl proportioniert auf der bayerischen Mutter Erde. Um ihre Pupillen aber spritzt übermütig ein Ring aus weisser Gischt; dann folgen die Gelb-, Grün- und Blautöne der an mediterrane Küsten brandenden See. Unter der hohen Stirne spielen elastische Wellen brünetter Seetang-Locken um ihr Gesicht. Blasse Lippen formen sich zu einem sinnlichen Mund; hohe Wangenknochen laufen aus in einem schmalen Kinn. Ihre kleinen Ohren schieben sich von unten nach vorne aus den Locken. Manchmal stellt sie den Kopf schräg und lächelt koboldhaft…
Annemarie war in den vergangenen Monaten Herrin seiner Gefühle geworden. Erste Anzeichen dieser Entwicklung bemerkte er nach ihrem ersten gemeinsamen Abendessen, in einem französischen Restaurant. Bis Mitternacht unterhielten sie sich angeregt bei zahlreichen Speisen mit Weinbegleitung und fanden immer wieder neue Themen, die sie mit der geteilten Freude an einer etwas überspitzten Sichtweise abhandelten. Es wurde viel gelacht. Wie würden sie den schönen Abend fortsetzen? Er war weder auf diese Frage vorbereitet, noch bekam er Gelegenheit, sie zu stellen, so gekonnt leitete Annemarie ihren Abschied ein. Morgen müsse sie früh zu einem Seminar aufbrechen. Ja, sie lade sich leider immer viel zu viel auf, werde es schon noch lernen, sich weniger zu verplanen. Dieses normale Ende eines ersten Abends berührte ihn weit mehr als sonst. Ihre schonende Höflichkeit betäubte ihn in gleichem Maß, wie ihn ihre messerscharf vernünftige Vorwegnahme des Ausganges verletzte. Er taumelte aus dem Lokal, orientierungslos, handlungsunfähig. Annemarie hatte schon ihr Auto erreicht, kehrte lachend noch einmal um, zum Abschied, bei dem seine linke Backe hauchzart ihre Wange streifte. Diese beinahe Berührung elektrisierte ihn von Kopf bis Fuß, löste einen Gefühlsstrom aus, der ihn begleitete: Beglückt und nicht wenig alkoholisiert machte er sich zu Fuß auf den Heimweg, nebenbei ein Fall ins Bodenlose …
Ausgeliefert
„Leute, lasst den Kopf nicht hängen!“ – könnte das die Botschaft sein, die der gekreuzigte Heiland in der Notaufnahme des Krankenhauses den zu seinen Füßen bunt zusammen gewürfelten Leidenden zurufen soll? Trotz Rollstühlen, amputieren Gliedmaßen und Pflegestufen der Versammelten toppte der „Lattengustl“ immer noch alle, wenn es um Befund und Heilprognose ging – keine frohe Botschaft also. Seit einer guten Stunde saß er nun auf einem der gepolsterten Stühle und bediente sich gelegentlich von dem kostenlos bereit gestellten Mineralwasser. Trotz spürbarer Hektik passierte nicht viel. Dann bat ihn eine als Auszubildende gekennzeichnete, goldlockige Engelsgestalt in ein Sprechzimmer und bemühte sich nach Kräften, seine vorsorglich mitgebrachte Krankenhauskarte in ein Lesegerät einzuführen. Erfolglos, wie sich später herausstellte. Anschließend bat sie ihn wieder hinaus: „Sie werden dann aufgerufen.“ Es verging eine weitere Stunde in betriebsamer Geschäftigkeit, die an seiner Situation nichts änderte. Eine Diagnose hatte er sich inzwischen selbst gestellt. Der Arm war mit Sicherheit gebrochen, würde operiert werden müssen.
Dann ging plötzlich alles schnell. Der zuständige Arzt erkannte die dringende Hilfsbedürftigkeit des neuen Patienten auf den ersten Blick, beschränkte sich auf eine kurze Anamnese und kümmerte sich persönlich um sofortige Röntgenaufnahmen. Wenig später wurde er von dem hinzu gekommenen Oberarzt über seine Verletzungen aufgeklärt. „In zehn Minuten werden Sie im Operationssaal erwartet, um den Bruch erst einmal zu fixieren.“ Er genoss das neue Tempo ebenso wie die beruhigende Kompetenz und beantwortete bereitwillig die Fragen der herbei geeilten Anästhesistin. Zügig wurde er in den Operationssaal geschleust, wo sich der vermummte Chefarzt vorstellte. Während er nochmals Art und Umfang des Eingriffs erläuterte, nickte er dem bereit stehenden Kollegen zu: „Sie können.“ Das war seine letzte Wahrnehmung.